Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger über den Schiefen Turm von Pisa
Am Ende des Sommer besuchte ich Italien. Ich schlenderte durch Pisa. Und natürlich kam ich auch am berühmten Turm dieser Stadt vorbei. Er ist sehr groß und mächtig und wirklich sehr schief. Kein Wunder also, dass viele Menschen mit ausgestreckten Armen davor standen, als würden sie den Turm aufrichten wollen und sich dabei fotografieren ließen.
Der Turm ist deswegen so schief, weil die damaligen Ingenieure so einiges falsch eingeschätzt haben. Er wurde auf einem weichen Untergrund aus Ton, Sand und Muschelschichten errichtet, was für eine solide Fundierung problematisch ist. Während des Baus begann der Turm schon nach der Errichtung der ersten Stockwerke vor gut 850 Jahren sich zur Seite zu neigen, da der Boden unter dem einen Teil des Fundaments stärker nachgab als unter dem anderen.
Knapp 200 Jahre hat man an den Fehlerquellen gearbeitet und den Turm nicht „gerade“ bekommen. Bis vielleicht einer sagte: „Ach – das lassen wir jetzt einfach so.“
Heute können wir froh sein, dass niemand auf die Idee kam, den missratenen Turm einfach abzureißen und noch mal ganz von vorne anzufangen. Im Gegenteil: Wir machen Fotos und alle Welt scheint diesen Turm zu kennen. Der vermeidliche Fehler hat sich zu einem Markenzeichen entwickelt. Ohne diesen Makel wäre der Turm nur einer unter vielen in der Toskana.
Vielleicht ist es auch ein bisschen so in unserem Leben. Erst unsere Eigenheiten, unsere vermeintlichen Fehler, all unsere Unvollkommenheiten machen uns zu einem Menschen „aus Fleisch und Blut“. Obwohl wir versuchen, alles perfekt hinzubekommen, landet oft der Toast mit der Butterseite nach unten auf dem Boden – als Sinnbild für alles, was nicht so glatt und geschmeidig läuft. Aber ist das wirklich so schlimm? Im Gegenteil, unsere Macken und Patzer machen uns erst richtig menschlich und, wenn wir ehrlich sind, auch ziemlich sympathisch und einzigartig. Wir sind von Natur aus nicht perfekt. Und vielleicht müssen wir das auch gar nicht sein und werden.
Denn möglicherweise lieben uns andere Menschen genau wegen all diesen kleinen Eigenheiten, Fehler und „Unebenheiten im Fundament“ wie beim schiefen Turm in Pisa. Sie machen den Unterschied.