Würzburger Theologe Huizing fragt, wie produktiver Umgang mit Verletzungen möglich ist
Ist menschliche Schuld unausweichlich? Dieser Frage stellte sich Klaas Huizing im Rothenburger Wildbad. Dort hielt er am Buß- und Bettag im vergangenen Jahr bei der Fortbildung für Religionslehrende „Weltanschauungen im Gespräch“ den theologischen Abschlussvortrag. Diesmal ging es dort um das Thema „Das gesteigerte Ich: Life-Coaching, Selbstoptimierung und Erfolgsutopien“.
Wie können wir mit unseren Unzulänglichkeiten umgehen, obwohl wir ein tiefes Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild haben? Diese Frage nach Verantwortung und Schuld gehört nicht nur zum Buß- und Bettag, sondern auch in die Passionszeit. Denn sie führt uns auf den Leidensweg Jesu, der „für uns“, also für unsere Verfehlungen in den Tod ging. Da ist es nötig, in jeder Biographie und an ihren Wendepunkten immer wieder neu zu klären, was darunter zu verstehen ist – wie auch die Passionszeit in jedem Kirchenjahr neu stattfindet.
Klaas Huizing lehrt seit 1995 Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie in Würzburg. Ursprünglich wuchs er in einem streng calvinistischen, altreformierten Milieu auf. Er konvertierte zur evangelisch-lutherischen Kirche.
Nach seinem Rothenburger Vortrag ließ sich die Winterzeit auch nutzen, um sich anhand seiner aktuellen theologischen Werke weiter auf Spurensuche zu begeben: In der umfangreichen „Lebenslehre“ von 2022, in der er weite Bereiche der Systematik neu ordnet. Und in der „Roadmap Verzaubert leben“, in der er diese selbst zusammenfasst sowie erfahrungsbezogen und ästhetisch neu untermauert. Daneben schreibt er auch Romane.
Huizing denkt neu über das traditionelle christliche Sündenverständnis nach. Nicht bei der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, sondern erst in der Geschichte ihrer Söhne Kain und Abel tauche das Wort „Sünde“ erstmals auf. Dies erklärte der Würzburger Theologe im Wildbad und legt es ausführlicher in seiner „Lebenslehre“ dar.
Die negativen Facetten der Vertreibung aus dem Paradies wie Mühsal und Schmerzen der Geburt sieht Huizing als Konsequenzen der Erkenntnisfähigkeit: Menschen werden erwachsen und gewinnen dafür Schaffenskraft und Fortpflanzungsfähigkeit – mit all ihren Schattenseiten.
Griff Gott ausreichend ein?
Nun aber zum ersten Brudermord (1. Mose 4) – ist er unvermeidlich? „Nein“, erklärte Huizing im Wildbad. Und er fuhr fort: „Gott tritt selbst auf als Coach, der versucht Kain zu bilden.“ Aber sind die göttlichen Argumente wirklich pädagogisch wertvoll? Zuerst verletzt er Kain, indem er sein Opfer ohne ausreichenden Grund zurückweist.
Dann fragt er ihn: „Warum ergrimmst du?“. Schließlich rät Gott: „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben.“ Ansonsten aber „lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (1. Mose 4,6 und 7). Bekommt Kain so wirklich die Chance, über sein Vorhaben nachzusinnen und davon Abstand zu nehmen?
Ganz ehrlich: Ich würde mich darüber nur noch mehr ärgern, gerade wenn ich ohnehin schon verletzt wäre. Da erscheint es mir wenig verwunderlich, dass Kain nicht über seinen verletzten Stolz herrscht. Gott schützt Abel nicht effektiv, obwohl er grundlos zuvor Kains Opfer verschmäht hat und die Tat vorherzusehen scheint.
Erst nach der Tat fragt Gott nach Abel. Er bestraft Kain durch dauerhafte Unruhe, unstetes Leben. Trotzdem kennzeichnet und schützt er ihn vor weiterer Eskalation. So geschieht ein großer „Kultursprung“, die Unterscheidung zwischen Täter und Tat, die Anerkennung seiner Würde trotz seiner düstersten Handlungen.
Auch dies erklärt Huizing ausführlicher in seiner „Lebenslehre“: In der Geschichte geht es um einen Erkenntnisprozess für die Lesenden: Anstatt die Beschämung über eine ungerechte Zurückweisung hilflos zu ertragen, sollen wir Menschen handlungsfähig bleiben. Doch im Gegensatz zu Kain nicht blindlings reagieren und zurückschlagen.
Lässt sich von Kain lernen?
Die Geschichte kann so als weitergehender Impuls dienen: um „den gewaltgenerierenden Verschiebemechanismus von Scham in Schuld zu durchschauen“ und um unser Verhalten grundlegend zu ändern.
Nach der traditionellen Sündenlehre leiden alle Menschen rückwirkend unter der Erbsünde. Wie sollen wir darüber herrschen? Dagegen meint Huizing, dass biblische Erzählungen auf „Sündenverhinderungsstrategien“ setzen, bevor sie geschehen können: Sie „versuchen durchgehend den Charakter des Menschen zu schulen und in Bahnen zu lenken, nicht nur auf Gewalt zu verzichten, sondern einen gewaltfreien Charakter auszubilden“.
Ist es möglich, dass wir Menschen im Gegensatz zu Kain unsere Verletzungen konstruktiv beherrschen? Doch selbst wenn das geschieht, besteht dann nicht die Gefahr, dass wir stolz auf unser souveränes Handeln sind? Und damit die Gnade Gottes nicht mehr benötigen? Oder sind wir allzu verstrickt in unsere Reiz-Reaktions-Schemata, so dass wir trotz der besten Absichten schuldhaftes Handeln nicht vermeiden können?
„Hier haben Vergebung und Rechtfertigung ihren Sitz im Leben“, so Huizing. In diesem Sinn diskutiert er Paulus: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt“ (Römer 7,19 f.).
Viele diffuse Verletzungen und Gefühle bedrängen den guten Willen des Menschen. Aber selbst da wird „vom Menschen erwartet, die Macht der von außen andrängenden Gefühle, die die Selbstbeherrschung oder die Besonnenheit und die Gesinnung angreift, zu bearbeiten, sprich über die Sünde zu herrschen“, so Huizing. „Wer freilich die anstrengende Prüfung negativer Gefühlsmächte verweigert“, wird schuldig.
Bibellesen als Therapiesitzung? Wenn ich mich gegen offenbar ungerechte Beschämungen oder Angriffe wehre, dann schütze ich vor allem mein „Selbstbild“. Dagegen meint Huizing: „Schuld heißt: Erfahrungen, die mein Selbstbild hinterfragen, zu ignorieren“. Doch daran schließt sich immer wieder neu die Frage an: Sind wir Menschen wirklich fähig, mit den Schwächen, die unser Selbstbild in Frage stellen, konstruktiv und verantwortungsvoll umzugehen – oder sind wir trotz bester Absichten auf Vergebung angewiesen? Diese Frage bleibt zentral – auch für unser tägliches Zusammenleben …
Klaas Huizing: Lebenslehre – Eine Theologie für das 21. Jahrhundert. Gütersloher Verlagshaus 2022, ISBN 978-3-579-07467-2, 776 S., 38 Euro.
Ders.: Verzaubert leben. Eine Roadmap zum Heiligen. 2024, ISBN 978-3-579-08254-7, 208 Seiten, 22 Euro.