Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger
Manchmal braucht es eine kleine, skurrile Geschichte, um uns daran zu erinnern, wie komplex das Leben wirklich ist – und wie leicht wir uns täuschen lassen, wenn wir nicht genau hinsehen. Seit ich die gelesen haben, geht sie mir nicht mehr aus meinen Gedanken.
Es lebte ein kleiner Vogel. Der Herbst kam, es wurde kalt, und der Vogel zögerte zu lange, um nach Süden zu fliegen. Schließlich war es so kalt, dass – als er einmal losfliegen wollte – seine Flügel zufroren. Er fiel auf ein Feld.
Während er dort am Boden lag und zu sterben glaubte, kam eine Kuh vorbei – und ließ einen warmen Fladen direkt auf ihn fallen. Warm und weich. Der Mist taute den kleinen Vogel auf. Er begann sich zu regen und er begann wieder zu zwitschern vor Freude. Er hatte überlebt.
Eine Katze, angelockt vom Zwitschern, schlich heran. Sie grub den Vogel aus dem Fladen – und fraß ihn.
Ende der Geschichte. Zunächst ließ sie mich ratlos zurück. Was soll man denn jetzt davon „lernen“ oder ins eigenen Leben umsetzten? Die Lösung ist einfach:
Nicht jeder, der dich in den Dreck bringt, ist dein Feind. Oft sehen wir die Umstände oder Menschen, die uns in Schwierigkeiten bringen, automatisch als Gegner. Doch manchmal ist gerade das, was uns unangenehm erscheint, das, was uns rettet oder wieder ins Leben zurückholt.
Nicht jeder, der dich aus dem Dreck zieht, ist dein Freund. Menschen, die uns „retten“ wollen, tun das nicht immer aus reiner Güte – und nicht jede Rettung führt zu etwas Besserem. Manchmal ist der Impuls, jemanden zu befreien, nur Fassade oder führt zu schlimmeren Konsequenzen.
Und drittens: Wenn du im Dreck sitzt und es dir gut geht – halt den Mund. Manchmal ist es klüger, still zu sein, wenn man sich in einer prekären, aber stabilen Lage befindet. Der kleine Vogel konnte wieder leben – aber sein überstürzter Ausdruck der Freude führte zu seinem Ende.
In einer Welt, in der schnelle Meinungen, vorschnelle Retter und laute Selbstdarstellung dominieren, kann uns diese kleine Geschichte daran erinnert, dass Weisheit oft im Innehalten liegt. Nicht jede helfende Hand ist segensreich, und nicht jede Krise ist Untergang – manchmal ist sie ein notwendiger Auftauprozess.