Kommentar im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Chefredakteurin Susanne Borée zu aktuellen Hungerkrisen
„Der Geier und das kleine Kind“: Lang ist es her, dass dies Bild um die Welt ging. Es zeigt ein ausgemergeltes Kind, zusammengesunken auf staubtrockener Erde. Wenige Schritte entfernt lauert ein Geier – bereit, sich auf das Leben zu stürzen, das kaum noch eines war.
1993 entstand das Bild im heutigen Südsudan. Der Fotograf Kevin Carter erhielt dafür den Pulitzer-Preis – und bittere Kritik. Warum hatte er nicht geholfen? Kurze Zeit später nahm sich Carter das Leben.
Schon damals herrschte im Sudan eine tödliche Hungersnot, verursacht durch Bürgerkrieg und politisch kalkulierte Blockaden. Der damalige Diktator Hasan Ahmad al-Baschir verweigerte Hilfslieferungen – hunderttausende Menschen verhungerten. Der Geier musste nicht lange warten.
Und das Kind auf dem Bild? Laut Wikipedia soll es überlebt haben – elf Jahre lang, bis ein Fieber kam. Vielleicht hat es da noch von den „Teufelsreitern“ gehört, die mit wehenden Gewändern die Dorfbevölkerung in der umkämpften Region niedermetzelten. Die Unabhängigkeit des Südsudan erlebte es nicht mehr. Auch nicht den Sturz al-Baschirs 2019 – und schon gar nicht den neuen Krieg, der den Sudan seit zwei Jahren erneut zerreißt.
Laut UN hat er bereits 25 Millionen Menschen in Hungersnot gebracht – davon wohl eine Million zu Tode. Hunger wird wieder gezielt eingesetzt – als Waffe. Doch die Welt sieht kaum hin. Bilder wie einst von aufwühlende Bilder von dort fehlen fast ganz – da haben die Kriegsparteien inzwischen gelernt.
Auch in Myanmar tobt ein Bürgerkrieg im Schatten – ausgenommen ein paar Bilder nach dem Erdbeben. Und ja, auch in Gaza – aber nun im hellen Scheinwerferlicht. Haben wir uns zu sehr daran gewöhnt? An blockierte Hilfslaster, an verzweifelte Menschen vor Ausgabestellen und Bombendetonationen dort, an Kämpfe um abgeworfene Pakete aus der Luft?
Da geht es nicht darum, ein Menschenleben gegen ein anderes aufzurechnen. Oder darum, zu sehen, wer zuerst oder wer sie am meisten auf dem Gewissen hat. Jeder Tote ist einer zu viel.
Aber: Wie lässt sich ein andauernder Krieg beenden? Es braucht politische Verantwortung. Druck von außen. Wie jüngst zwischen Kambodscha und Thailand, wo eine unsauber gezogene Grenze aus der Kolonialzeit neue Kämpfe entfesselte. Malaysia und die USA griffen ein. Nun herrscht Waffenruhe. Hoffentlich hält sie!
Doch global greift sie um sich – die Hungerwaffe. Und wir stehen daneben – wie der Geier auf dem Bild. Oder wie der Fotograf, dem sein Bild wichtiger war als das Leid.
Wenn niemand Verantwortung übernimmt, übernimmt das Chaos. Wenn niemand hilft, die Wunden zu verbinden, den Scherbenhaufen aufzulesen, das Fenster zu reparieren – dann klirrt bald das nächste. So funktioniert die sogenannte „Broken-Windows-Theorie“: Dort, wo Zerfall toleriert wird, wächst die Gleichgültigkeit. Und mit ihr stirbt die Hoffnung. Die USA haben erst kürzlich viele ihrer Hilfen für Afrika drastisch reduziert. Auch der Sudan ist davon besonders betroffen.
Auch wenn es global deutlich komplexer ist als unter Nachbarn und keine glatte Lösung in Sicht ist: Wann wollen wir mit dem Reparieren beginnen? Oder wie der Geier warten – bis es zu spät ist?