Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt über die verworfene Stadt
Und als Jesus nahe hinzukam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du besucht worden bist. Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: „Mein Haus wird ein Bethaus sein“; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn alles Volk hing ihm an und hörte ihn.
Lukas 19,41–48
Jesus weint. Das ist kein sentimentaler Gefühls-Überschuss. Jesus weint wegen Jerusalem, der Stadt im Planquadrat Gottes. Er sieht Zerstörung über die Stadt kommen, von der Römermacht wenige Jahre nach der Fertigstellung der Evangelien in grässlicher Perfektion vollzogen. Danach war Jerusalem offiziell „judenfrei“.
In unseren Tagen träumen feindselige Mächte wieder davon, diese Stadt dem Erdboden gleichzumachen. In Teilen der islamischen Welt ist es zu hören. Im Internet war das Foto eines Buben zu sehen. Er hat ein T-Shirt an. Es ist ihm ein paar Nummern zu groß. Der Aufdruck in Türkisch und Englisch: „Befreit Jerusalem! Ich wünsche mir eine Welt ohne Israel.“ Berüchtigt sind die hasserfüllten Sprechchöre, die alljährlich in Teheran anlässlich des Jerusalem-Tages zu hören sind. Auch in Berlin finden solche Demos statt in aller Freiheit, die unser System bietet …
Beschämt schauen wir heute auf die christliche Judenfeindschaft vergangener Jahrhunderte zurück. Erschüttert lassen wir uns (hoffentlich!) erinnern an die verbrecherischen Folgen dieser Feindschaft. Hoffentlich ist das in der Christenheit für immer vorbei. Aber es kann nicht christlich sein, unter diese beschämte Trauer einen „Schlussstrich“ ziehen zu wollen.
Das oben Geschriebene führt uns an uns selbst heran. Jesus reinigt in prophetischer Symbolhandlung den Tempel. Hat das nichts mit uns zu tun, hier und heute? Hilft uns dieser Bibeltext zwischen Bügelbrett und Kochlöffel, zwischen Kombizange und Ölwechsel – in unserem Alltag also? Kann er uns bereichern? Trägt er dazu bei, dass wir innerlich weiterkommen? Sind auch wir schon – wie so viele – in eine Verniedlichungsfalle getappt? Ein Gott, der nur Streichel-Einheiten austeilen darf? Ein Gott, dessen Kreuz man nur bunt bemalt erträgt – am liebsten mit Bildern lachender Sonnen, fröhlich tanzender Kinder, kraftstrotzender „Natur“?
Pfarrer i.R. Heinz Bogner, Mistelgau
Gebet: Jesus Christus, zu dir beten wir. Wir wünschen Jerusalem Frieden. Wir wünschen dem Heiligen Land und allen seinen Nachbarn Frieden. Herr, erbarme dich! Amen.
Lied EG 290: Nun danket Gott