Schmerzhaft-poetische Tiefendimensionen

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Buchtipp: Das Lieben danach von Helene Bracht

Es ist nur ein schmales Bändchen – und doch von großer Wucht. Nicht als Gute-Nacht-Lektüre zu verwenden – trotz der betörenden Blumenornamente des Covers. Sie machen es schwer vorstellbar, dass Helene Bracht in diesem Buch ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch verarbeitet. Und gleichzeitig versöhnt die 70-Jährige sich darin mit sich selbst. Sie stellt sich der Begrenzung, die ihr Leben geprägt hat: Den Schwierigkeiten, Vertrauen zu schenken und eine dauerhafte Beziehung zu führen.

Bracht verarbeitet darin nicht nur ihre frühen Jahre, sondern zieht Bilanz ihrer facettenreichen Biographie. „Ein ganzes Leben braucht es, um einen solchen Text zu schreiben“, heißt es im Verlagstext – und die Autorin selbst bestätigt in einem Interview: Zumindest aber müsse es so lange reifen „ihn zu denken, all das, was in ihm aufscheint, in Gelassenheit ordnen und vor einen weiten inneren Horizont stellen zu können, das vielleicht schon.“ Und weiter: „Tiefenschärfe in der Reflexion und eine Haltung der versöhnlichen Betrachtung brauchen Zeit – ebenso wie der Versuch, der Sprache auch dann, wenn es heikel wird, eine präzise Gestalt zu geben.“ Da halfen ihr sicher ihre lebenslangen Erfahrungen als Psychologin. Doch es ist kein anlaytischer Text, sondern ihre Sprache ist von solcher poetischen Dichte, dass sie bis an die Schmerzgrenze reicht.

„Die Geschichte erschien mir viele Jahre lang gänzlich unerheblich“ – mit diesem Satz öffnet Bracht den Blick auf einen jahrzehntelang verschütteten Teil ihres Lebens. Seit ihrem fünften Lebensjahr missbrauchte sie der Untermieter der Eltern – buchstäblich bis aufs Blut. Er band sie an sich mit der Behauptung, sie sei „etwas ganz Besonderes“. Obwohl sie als Mädchen damals fast ganz verstummte, bemerkte die Mutter dies erst nach mehreren Jahren. Der Untermieter verschwand spurlos aus ihrem Leben. Doch der Vater konnte ihr „von Stund an nicht mehr in die Augen schauen. War es Strafe oder Scham?“

Trotz dieser fast unerträglichen Thematik schreibt Bracht keine Anklage. In beeindruckender Klarheit sowie leiser und fast humorvoller Distanz gelingt es ihr, ein Tabu zu brechen und einen neuen Ton in die Debatte über Sexualität und Macht einzubringen. Sie bleibt nicht die „Geschändete“, das „Opfer“. Sie rückt nicht allein den Täter ins Zentrum, sondern reflektiert auch ihre eigenen Verhaltensmuster schonungslos. Eine Ex-Partnerin warf ihr vor, rücksichtslos gewesen zu sein – Verhalten, das Bracht heute als Spiegel des Erlebten deutet: Opfer, die unbewusst Täterhaltungen imitieren.

Im Rückblick erkennt sie, wie sehr der Missbrauch ihre Beziehungen prägte, warum Nähe für sie oft scheiterte und Sexualität von Brüchen durchzogen blieb. Das Alleinsein im Alter empfindet sie schließlich als Befreiung. Doch Bracht schreibt hier weder als Psychologin noch als Dichterin nur für sich. Sie will anderen Mut machen, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen und allen Impulse zu geben, „die über Intimität, Vertrauen, Schuld und Macht in der Begegnung zwischen Menschen nachdenken.“

Helene Bracht öffnet den Blick über den Missbrauch als absolute Grenzverletzung hinaus: Sie denkt darüber in Ihren vielfältigen Facetten nach. Sie zeigt, was es heißt, sich wirklich auf andere einzulassen – ohne sich grenzenlos zu verlieren, alles geben oder alles begehren zu müssen. Zugleich stellt sie die existenziellen Fragen: Wie bleibe ich selbstbestimmt, ohne mir etwas vorzumachen? Wie gehe ich mit den vielen intensiven Eindrücken, Begegnungen und Erlebnissen um, die sich tief in mein Leben einschreiben? So gewinnt dieses schmale Bändchen auf vielen Ebenen immer weitere Tiefen, die es so lesens- und nachdenkenswert machen.

Helene Bracht: Das Lieben danach. 192 S. Hanser 2025; ISBN 978-3-446-28291-9; 22 Euro.