Jonglieren mit „Gedankenseifenblasen“

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Jonglieren. Foto: pixabay
Jonglieren. Foto: pixabay

Lebenslinien ein Jahr danach: Wie eine Frau in der Lebensmitte ihre ADHS in Balance bringt

Langsam wieder zu leben beginnen, das war ihr Wunsch vor einem Jahr! Im Gespräch mit einer Frau in der Lebensmitte, die erst kurz zuvor eine ADHS-Diagnose erhalten hatte, entstand eine Spurensuche, wie sie damit umgeht. Und jetzt, nach gut einem Jahr? Ist Anna (wie wir sie nannten, der tatsächliche volle Name ist aber der Redaktion bekannt) auf ihrem Weg weitergekommen?

„Manche Tage sind wie ein Jonglieren mit zu vielen Bällen“, seufzt sie. Dann hebt sie lächelnd den Kopf: „Aber muss ich alle oben behalten? Muss ich mich damit unter Stress setzen?“ Sie habe sich in den vergangenen Monaten intensiv damit beschäftigt, mit solchen Ansprüchen kreativer umzugehen. Gerade, wenn sie sich von anderen bedrängt oder von Terminen gehetzt fühlt, erscheinen ihre Gedanken wie überflutet von sich wiederholenden Abwehrreaktionen, einem Hineinsteigern ins Genervtsein. 

Dies Bild des Jonglierens kommt nicht von ungefähr. Denn auch ganz buchstäblich experimentiert sie damit, um ihren Kopf freizubekommen. „Das ist alles andere als beeindruckend anzuschauen, denn die Koordination ist nun wirklich nicht meins“, gibt sie gerne zu. 

Dies bestraft schließlich jede noch so kurze Unachtsamkeit – ebenso wie auch das Klavierspielen, das bei ihr ähnlich wirkt: „Dann passt die Koordination der Hände mit ihren unterschiedlichen Bewegungen nicht mehr zusammen: Ich gerate aus dem Takt. Und sogleich erklingen Dissonanzen oder ich muss mich zu den Stoffsäckchen am Boden bücken. Denn sie fallen sanfter als Bälle. Und das tun sie halt ärgerlich oft.“ 

Trotzdem geschähe dabei etwas im Hintergrund, das das Gehirn entknotet. „Die Konzentration auf die Bewegungen meiner Hände kann die Gedankenschleifen stoppen. Hinterher ist mein Kopf wie ausgelüftet und bereit, sich auf Neues einzulassen.“ Sich Pausen zu gönnen, Abstand zu gewinnen, daran arbeitet sie nach wie vor intensiv. Das hilft ihr. Jedenfalls manchmal.

Irritation genau einordnen

Immer mal wieder hat sie sich schon früher mit klassischen Meditationen beschäftigt – eine wahre Qual für sie: Das Stillsitzen genauso wie die Ereignislosigkeit: Dagegen steuere das Gehirn mit einem besonderen Feuerwerk an Gedankenblasen und Assoziationen weiß sie nun. 

Dann eher die christliche Form der Ausrichtung auf das Wesentliche im Wechsel von Aktivität und Kontemplation – sozusagen: „Bete und Arbeite“? Anna nickt langsam: „Wenn ich mit etwas ganz anderem beschäftigen bin, vielleicht gerade bei einer etwas gleichförmigen Aktivität, dann ordnen sie plötzlich auch die Gedanken zu einem Problem, einer schwierigen Entscheidung, die mich umtreibt. Dann ist da ein Weg.“ 

Außerdem experimentiert sie mit maßgeschneiderten Achtsamkeitsübungen: Welche Geräusche stürmen auf sie ein? Fünf unterschiedliche Schallquellen zu unterscheiden und zu benennen, das klingt manchmal einfacher als es ist. Und dann ein Geräusch für sich ausschalten, nicht mehr wahrzunehmen, das ist für sie eine Herausforderung: „Mich dann nur noch auf eins zu konzentrieren, ist mir noch nie gelungen“, gibt sie zu. Aber zumindest ließ sich der eine oder andere Misston ausschalten. Manchmal schaffe sie es, sich mit geschlossenen Augen auf den Rhythmus ihres Atems einzupendeln.

Und wenn die Genervtheit in ihr aufsteigt, weil die Anforderungen steigen, ihre Planungen durcheinandergeraten oder sie sich nicht auf ein Vorhaben einlassen kann? Sich genau darauf zu konzentrieren: „Was empfindet mein Körper in dieser Anspannung? Die verkrampften Hände, überspannten Sehnen, die zusammengebissenen Zähne. Die innere Enge, die mir immer weniger Luft zum Atmen lässt. Es rumpelt anscheinend in meinem Kopf wie bei einem Ball beim Kegelspiel, der sein Ziel verfehlt, gegen eine Wand kracht, von ihr abprallt und hin und her reflektiert wird.“ 

Da versuche sie sich auf den herumwirbelnden Ball in ihrem Kopf zu konzentrieren und seine Bewegungen allmählich zu verlangsamen. „Auch eine Form des Jonglierens.“ Sie schaut auf: „Und es hilft: Besonders, wenn es mir gelingt, den Wänden und dem Ball Namen zu geben: Was vibriert da in mir? Durch diese Beobachtungen gewinne ich Abstand – als wenn ich mir von außen zuschaue.“ Das „diffuse Unbehagen“ in ihr erscheint genauer fassbar. 

Emotionen wecken auf

Hinzu kommt: „Wenn ich mich über andere ärgere, gebe ich ihnen Macht über meine Gefühlswelt“. Bevor sie reagiert, versucht sie ebenfalls Abstand zu gewinnen: „Nicht gleich antworten, sich auch da eine Pause gönnen – bis die Gedanken sich geklärt haben“. Und nach einem tiefen Atemholen: „Ich muss nicht immer recht haben“. Doch es gibt einen Gegenpol: „Andererseits helfen mir Emotionen, wach zu werden“, die Muskeln spannen sich an, der Kreislauf brummt. „Ja, und wenn es diese Funktion erfüllt hat, würde ich es gerne loslassen oder in konstruktivere Bahnen lenken: Es ist so viel Energie, die sich verschwendet oder mich gar blockiert.“ 

Und das gelingt immer – etwa durch all die genannten Beobachtungen? „Natürlich nicht. Auch nicht zu 50 Prozent“, gibt Anna zu. Sie schaut auf: „Aber immer öfter.“ 

Kaleidoskop enthüllt Bilder 

Da empfindet sie inzwischen ADHS längst nicht mehr nur als ein Defizit: Die „Gedankenseifenblasen“ machen ihr Leben bunter, meint sie. Die Kreativität, die sich daraus ergibt, ist für sie durchaus ein Geschenk. „Dafür muss ich meine Dünnhäutigkeit, meine Verletzbarkeit in Kauf nehmen.“ 

Sascha Lobo – Publizist, Podcaster, Digitalexperte und selbst bekennender ADHS-ler – meinte dazu: „Gute Geschichten erhöhen den Dopaminspiegel“ und gerade an diesen Botenstoffen gibt es bei neuro-diversen Menschen mit ADHS-Mangel. Jedenfalls findet Anna Ruhe in der Vorstellung von Geschichten und Bildern, von denen so viele in ihr ruhten. „Sie bieten vielleicht auch Gegenbilder zu den Gedankenschleifen“, ergänzt Anna. „Sie verdichten viel und klären dadurch einiges.“ 

Und nach einer Pause: „Trotz vieler verpasster Möglichkeiten versuche ich mich mit mir selbst zu versöhnen. Ich muss nicht immer getrieben sein. Nein, ich lasse es selbst zu, inwieweit ich dies geschehen lasse“. 

Manchmal sei jedoch schwer zu entscheiden: „Was will ich wirklich? Die Sehnsucht, mit mir selbst im Gleichgewicht zu sein, das ist nicht nur ein zu hoher Anspruch an mich selbst. Er kann auch eher zur Erstarrung führen als der umherwirbelnde Balanceakt, aus dem viel Energie entsteht“. Sie ergänzt: Bevor sie auf Akzeptanz anderer hoffe, „muss ich aber erst einmal Frieden mit mir selbst machen.“