Johanna Haberer entfaltet, wie die Bibel Gottes Geist vielfältig spiegelt und gezielt fokussiert
Geht das? Die gesamte Bibel auf hundert Seiten zu erklären – dazu noch im schmalbrüstigen Reclam-Format? Na gut, die Ausgabe ist nicht mehr ganz so handtellergroß wie die unzähligen quietschgelben Lesefrüchte zur Weltliteratur – aber immerhin! Wozu dann die unzähligen Regalkilometer von gefühlt zentnerschweren Folianten in theologischen Bibliotheken?
Johanna Haberer stellt sich mit klarem Blick und poetischer Sprache dieser Herausforderung. Dabei macht die emeritierte Theologieprofessorin, Sonntagsblatt-Herausgeberin und gefragte Publizistin schnell deutlich: Die Bibel ist keinesfalls verstaubt – sondern sie lädt dazu ein, ihre Botschaft neu zu leben. Der Mensch ist in der Bibel ein Beschenkter. Mit ihrer Schwester Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“ hat sie bereits in ihren wöchentlichen Podcasts „Unter Pfarrerstöchtern“ biblische Perspektiven neu durchbuchstabiert.
Selbst in ihrem kompakten und aktuellen Büchlein zur Bibel findet die Theologin noch genug Raum, um auf den ersten 20 Seiten den Blick zu weiten auf die Bedeutung der Bibel für die gesamte Menschheit als „Weltkulturerbe“. Schließlich gäbe es ohne sie keine Menschenrechte, keine Gewaltenteilung – nicht einmal den Kommunismus, unterstreicht sie.
Gleichzeitig blicken die biblischen Bücher als „Dokument kultureller Vielfalt“ und als „Übersetzungswunder“ über den Horizont des Menschen und der Menschheit hinaus. Dies auch ganz wörtlich: Denn Haberer erzählt die „fromme Legende“ eines Missionars auf Papua-Neuguineas, der die Bibel in der Sprache des Eingeborenenstamms übersetzen wollte, in dessen Mitte er wirkte. Nur das Wort für „Hoffnung“ fand er nicht – bis ihn ein junger Indigener zufällig darauf aufmerksam machte: Es war das Bild über den Horizont hinauszuschauen – und damit die eigene Begrenztheit zu verlassen.
Aber was ist mit solchen Begriffen wie Barmherzigkeit und Buße, Gnade und Reue? So altbacken sie erscheinen, besitzen sie doch einen „überraschenden Überschuss“, einen ethischen Schatz, um Zukunft zu formen. Daran erinnert Johanna Haberer eindringlich. Selbst missbräuchliche Deutungen oder eine Engführung ihrer Offenbarungen können für sie deren Größe nicht schmälern.
Bibel menschlich lesen
Wichtig ist es Johanna Haberer, die Bibel „menschlich zu lesen“: Und damit Perspektiven zu entdecken, welche Gottesoffenbarungen und -vorstellungen prägende Kraft entwickelten, damit sich Menschen weiter entwickeln konnten. Nicht zufällig stehen in vielen biblischen Büchern mehrere Überlieferungsstränge nebeneinander: zwei Schöpfungsberichte, vier Evangelien – und drei Personen der Trinität. Sie alle zeigen die Unfassbarkeit Gottes und die Vielfalt der Zeugnisse über ihn. Obwohl da das eine oder andere weitere Evangelium nicht aufgenommen wurde, symbolisiert die Zahl „vier“ symbolisch die Ganzheit des Irdischen – wie etwa die vier Elemente oder die Himmelsrichtungen.
Gott zeigt sich immer wieder als der Unfassbare und der Befreier, die Liebe und das Licht – der sich immer neu in Begegnungen verwirklicht. Das Leben ist den Geschöpfen von Gott geschenkt, jeder Mensch ist poetisch gesagt „ein Kuss Gottes.“ So beseelt Gott ihn und stellt ihn in die Welt als Beziehungswesen, denen gleichzeitig „innere Bewegung zugetraut“ wird. Deshalb sollten sie verantwortlich handeln: Die Herausforderung der Schöpfungsgeschichten.
Daran schließt Haberer eine spannende Neudeutung des „Turmbaus zu Babel“ an. Die Einheit ihrer Sprache vor dem göttlichen Eingreifen sieht sie nicht als glücklichen Urzustand der Menschen, sondern als „unheimliche Einstimmigkeit. Sie erscheinen wie gleichgeschaltet – die „Sprachverwirrung“ wie eine Befreiung zur Vielstimmigkeit. Natürlich auch mit den Gefahren des
Missverstehens und mit all den zeitintensiven Mühen, fremde Sprachen zu erlernen oder die Ausdrucksmöglichkeiten der Nachbarn zu begreifen. In der Pfingstgeschichte führt der Heilige Geist „vom Reden zum vielfältigen Verstehen“. Er schafft ein besonderes Gipfelerlebnis – schaltet aber nicht mehr gleich.
Unterwegs in die Zukunft
Leiden und Tod Jesu erscheint wiederum beispielhaft „für das Mitleiden, ein Zeichen der Solidarität mit allen, die unschuldig um ihr Leben und ihre Zukunft gebracht wurden“ – hin zum Durchbruch der Auferstehung. So erfüllt er die Botschaft des Ersten Testamentes – nicht als Umdeutung des Weges Gottes mit seinem Volk, sondern in diesen Spuren.
Seit Anbeginn der Überlieferung herrscht dort ein tiefes Misstrauen gegen alle menschlichen Machtbestrebungen, wie Haberer nun deutlich macht. Die Herrschenden brauchen die Institution und die Intuition der Prophetie zur Korrektur: Saul sowieso, aber genauso David, der an sich einen Gegenpol zu ihm bieten sollte.
Von Amos an richten die Propheten ihren Blick auf das Wohlergehen der Armen und Unterdrückten. Nach dem Scheitern der Staatswesen in Israel und Juda und trotz aller Bedrohungen fordern sie einen Neuanfang unter den Maßstäben verantwortlichen Handelns. Gleichzeitig erscheinen der leidende Gottesknecht und Hiob als ihre Idealbilder – ein „Schlüssel für das Verständnis des Leidens und Sterbens von Jesus“.
Er war Zeit seines Wirkens unterwegs – ebenso wie das wandernde Gottesvolk nach seinem Aufbruch aus Ägypten – kein Stillstand, sondern immer in Suchbewegung. So ist die „Bibel kein Buch, auf das man eine geschlossene Lebenslehre aufbauen kann“, sondern ein „Leben im dazwischen“ auf der Suche nach der „zukünftigen Stadt (Hebräer 13,14) – aber in Liebe „als Weltprinzip“. Die zentrale Botschaft Jesu zur Versöhnung sei heute aktueller denn je. Nur wer vergeben kann, kann wirklich neu anfangen. Und die Kraft dazu? Sie stammt aus dem Überfluss göttlicher Liebe.
„Alles, was du wissen musst, um glücklich zu leben und zu überleben, steht in mir – diesen Anspruch hat die Bibel. Alles, was du wissen musst, damit dein Leben gelingt und am Ende die Erde über deinem Sarg leicht wird.“ So das eindrückliche Fazit Johanna Haberers zu ihrem umfassenden Überblick über die zeitlose Kraft der Bibel und deren zielgenaue Botschaft. Die hundert Seiten sind nicht nur unterhaltsam zu lesen, sondern auch äußerst gehaltvoll. Die Bibel will dazu helfen: „glücklich zu leben und zu überleben“. Nicht durch starre Regeln, sondern durch geistige Weite und menschliche Tiefe. Das Reclam-Heft mag schmal sein – doch es öffnet den Raum für eine der großen Geschichten der Menschheit – sofern wir Gottes Horizont der Hoffnung annehmen.
Johanna Haberer: „Bibel. 100 Seiten“ Reclam Verlag Ditzingen, 12 Euro, ISBN 978-3-15-020719-2.