„Unsere Kirchen bleiben Zufluchtsorte“

Gemeinden stellen sich den Herausforderungen des Kirchenasyls trotz aller Abschottung

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Gemeinden stellen sich den Herausforderungen des Kirchenasyls trotz aller Abschottung

„Wir schauen auf jeden einzelnen“, versicherte Stephan Reichel bei einem Vortrag in der Rothenburger St. Jakobsgemeinde Anfang Mai. Auf seine Vermittlung hin hatte die Gemeinde zwei Monate zuvor kurzfristig ein Kirchenasyl durchgeführt. Zwei junge Männer aus Syrien, Cousins, sollten Mitte März von der Tauber nach Bulgarien abgeschoben werden. Dort waren sie zuerst in Europa registriert worden. 

Nach dem „Dublin-Abkommen“ ist derjenige europäische Mitgliedsstaat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig, in dem die Geflüchteten zuerst registriert wurden. Praktisch für Deutschland: Da müsste „jemand schon über die Nordsee schwimmen“, so Reichel, oder direkt einfliegen – was praktisch genauso unmöglich ist. 

Dennoch waren die beiden jungen Syrer aus Rothenburg schon beinahe sechs Monate in Deutschland – nach dieser Zeit läuft die Frist für eine solche Abschiebung ab. Nur noch die letzten drei Wochen waren zu überbrücken, als die Behörden entsprechend auf sie aufmerksam wurden. 

Massiver Einsatz der Kirche

Sie wandten sich hilfesuchend an Stephan Reichel, den der damalige bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm 2014 als Referent für Migration berufen hatte. Als 2015 besonders viele Geflüchtete Deutschland erreichten, wäre auch damals ohne die Hilfe der Kirchen „nichts gelaufen“, so Reichel. Seitdem hat er rund 2.500 Kirchenasyle begleitet. Diese Arbeit setzte er fort bei seinem neuen Engagement als Vorsitzen­-
der des überkonfessionellen Vereins „matteo – Kirche und Asyl e.V.“ und Beauftragter für Flüchtlingsarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine für Deutschland. Er berät und unterstützt da weiter bedrohte Geflüchtete.

Und Bulgarien kennt er gut: Es lässt Geflüchtete in Internierungslagern unter unmenschlichen Bedingungen sowie mit fortwährenden Misshandlungen festhalten. Stephan Reichel war selbst im vergangenen Herbst mit einer „matteo“-Delegation dort. Er engagiert sich intensiv dafür, dort die Verhältnisse zu verbessern. Bis dahin müssen Menschen vor einer Abschiebung nach Bulgarien geschützt werden, da ihnen ansonsten „Gefahr an Leib und Leben“ drohe, so Reichel. Er war auch mit den beiden Syrern aus Rothenburg in direktem Kontakt und sprach mit ihnen über ihre Fluchtgründe. Wenn etwa jemand die neue Regierung in Syrien positiv beurteile, die laut Reichel die Scharia einführen will, würde er kein Kirchenasyl befürworten. 

Über Reichels Vermittlung jedoch kam Ende Februar kurzfristig der Kirchenvorstand von St. Jakob zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen: Einstimmig stimmte er für die gut dreiwöchige Hilfeleistung. Es war ein so genanntes „stilles“ Kirchenasyl – nicht wirklich geheim, aber auch in der Öffentlichkeit diskret behandelt. Die staatlichen Behörden, besonders das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren jedoch wie üblich darüber informiert. In Bayern wird üblicherweise das Kirchenasyl respektiert – so auch in Rothenburg. 

Mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann pflegt Stephan Reichel intensive Kontakte. Rechtlich laufen solche Kirchenasyle in einer „Grauzone“ ab. Doch haben sie eine lange Tradition – es gab sie bereits in der Antike und im Christentum seit mindestens 1.600 Jahren. Auch Martin Luther befürwortete sie. 1803 ließ es Napoleon abschaffen – aber nie ausdrücklich verbieten. Reichel verweist da auf „Gewohnheitsrecht“. Sowohl die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als auch die Bayerische Landessynode sprachen sich unter anderem dafür aus. 

Anfang Dezember 2024 hatte dennoch etwa in Bremen die Innenbehörde versucht, einen Somalier aus einem Kirchenasyl herauszuholen. Rund hundert Menschen stellten sich schützend vor ihn und verhinderten dies. Dann stritten die Bremer Innenbehörde und die dortige Landeskirche darüber, ob Gemeinden dort „zu großzügig“ Kirchenasyl anbieten.

Biblische Gründe für Hilfen

Direkt nach Ostern hat nun die EKD mit einer biblisch-theologischen Grundlegung an die Wurzeln und die Bedeutung des Kirchenasyls erinnert. Bischof Christian Stäblein, Flüchtlingsbeauftragter des Rates der EKD, betonte dazu erneut: „Kirchengemeinden gewähren Kirchenasyl nicht leichtfertig, sondern nach gewissenhafter Überlegung und als letztes Mittel. Denn wie könnten wir tatenlos zusehen, wenn einem schutzsuchenden Menschen Gefahr droht?“ 

Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, verstünden dies als ihre christliche Pflicht, ohne sich anzumaßen, rechtsfreien Raum zu schaffen. Der Rechtsstaat braucht immer Menschen, die auf bestehende Ungerechtigkeiten hinweisen und sie überwinden. Durch ein Kirchenasyl leisten Gemeinden einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft, so Stäblein. „Unsere Kirchen bleiben Zufluchtsorte.“

Auch Reichel erläuterte in Rothenburg, dass nun mehr als 50 Prozent der negativen Asylbescheide des BAMF von Gerichten aufgehoben würden. „Das sollte sich eine andere Behörde einmal leisten!“

Die aktuelle 24-seitige EKD-Broschüre zeigt eindrücklich, wie tief die Bibel von den Erfahrungen der Flucht geprägt sind und wie aktuell die biblischen Texte sind. Praktische Informationen zum Kirchenasyl und Adressen zu Beratungsangeboten, runden sie ab.

Das braucht es in Rothenburg kaum noch: Dort wechselten sich mehrere Kirchenvorstände bei Einkäufen ab. Denn die Geflüchteten durften natürlich das Gebäude nicht verlassen. Ihr Aufenthalt dort lief zeitgleich mit dem Fastenmonat Ramadan, den die beiden Syrer einhielten. Das bot auch Gelegenheit für abendliche Treffen zum gemeinsamen Kennenlernen und Kochen. Es gab Deutschunterricht für sie.

Inzwischen sind sie nach Ablauf der sechsmonatigen Frist ins reguläre Asylverfahren gelangt. Beide haben nun eine Anstellung in der Rothenburger Gastronomie gefunden.

Gerade dort, aber auch in der Pflege, sind Migranten wirklich nötig, um vorhandene Angebote aufrecht zu erhalten, bestätigte Reichel in Rothenburg. Er erklärte sogar, dass die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 500.000 Migranten bräuchte. Durch die Debatten um verstärkte Abschiebungen und Grenzschließungen werde jedoch ganz im Gegenteil ein Klima der Abschottung und Ausgrenzung begünstigt. 

Reichel verwies auf Dinkelsbühl, das sich intensiv um die Ansiedlung von Migranten kümmert. Auch Ex-Dekan Uhland Spahlinger von dort engagiert sich nun im Vorstand von „matteo e.V.“ und als Bindeglied zur Evangelischen Landeskirche. Geflüchtete dort finden einen sicheren Hafen und helfen selbst, um die touristischen Angebote dort aufrecht zu erhalten. Susanne Borée

Die aktuelle EKD-Broschüre lässt sich kostenfrei unter https://www.ekd.de/kirchenasyl-89590.htm herunterladen oder gedruckt bestellen.