Dem Bedürftigen herzhaft zugetan sein

72
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Erntedank

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“  

Aus Jesaja 58,7–12

„Die Kirche soll sich gefälligst um Gottesdienst und noch Seelsorge kümmern und sich ansonsten nicht in gesellschaftliche Angelegenheiten mischen.“ Zurzeit lese ich diesen und ähnliche Sätze häufig in den Sozialen Medien.  Dabei ist die Bibel hier sehr eindeutig. Gläubige können und dürfen sich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen. Eines der Hauptmotive der Bibel, das sich durch das Alte und das Neue Testament gleichsam hindurchzieht wie ein roter Faden, ist dies: Gott steht auf der Seite der Armen, der Geringen, der Fremden. Wer den Glauben auf fromme Übungen reduziert und die Kirche aus gesellschaftlichen Fragen heraushalten will, der hat die Bibel nicht gelesen oder nicht verstanden.

Die Lesung für das heutige Erntedankfest ist Teil eines längeren Kapitels, in dem es genau darum geht: Die Liebe zu Gott muss mit der Liebe zu den Mitmenschen Hand in Hand gehen. Und zwar nicht nur mit der Liebe zu denen, die heute gern als „Leistungsträger der Gesellschaft“ bezeichnet werden.

Es reicht nicht, fromm zu erscheinen oder Gottesdienste zu besuchen, wenn unsere Herzen kalt bleiben gegenüber den Bedürftigen. 

Es geht nicht nur um materielle Hilfe, sondern darum, ein offenes Herz zu haben und den anderen als Mitmenschen wahrzunehmen. Wer sich dem Bedürftigen zuwendet, wird selbst zum Segen: Licht bricht hervor, Heilung kommt, Bitten werden erhört. Eben deshalb, weil Gott sich mit dem Armen identifiziert. 

Zurzeit dominiert die Angst, selbst zu kurz zu kommen. Ist es nicht interessant, dass die Bibel an keiner Stelle die Schuld an der Armut beim Armen selbst sucht? Weder Jesus, noch die Propheten des Alten Testaments sagen: „Dann musst du dich halt mehr anstrengen, damit du es zu etwas bringst.“ Stattdessen fordern sie, sich der „geringsten Brüder (und Schwestern)“ anzunehmen, weil Gott selbst sich mit ihnen identifiziert (Matthäus 25).

Eine Gesellschaft und eine Kirche, die sich nicht an den Bedürfnissen und Nöten der Geringsten orientiert, läuft Gefahr, am Kern der biblischen Botschaft vorbei zu leben.  Wie krank oder gesund eine Gesellschaft als Ganze ist, zeigt sich daran, wie sie mit denen umgeht, die Hilfe benötigen. 

Jeder und jede kann etwas dazu beitragen, dass der christliche Glaube nicht frommes Gerede bleibt, sondern Strahlkraft in unsere Gesellschaft hinein entwickelt. Jeder kleine Schritt zählt. So kann auch durch uns Licht in die Welt getragen werden, und wir werden selbst zu Quellen von Hoffnung und Stärkung für andere. 

Christiane Maag, Pfarrerin, Coburg