Der Kraft des Anfangs vertrauen

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Inge Wollschläger Editorial Hintergrundbild Kraus

Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger zum neuen Jahr 2026

Ein neues Jahr beginnt. Das ist für die einen mehr als ein Wechsel im Kalender. Was für einige ein Moment des Innehaltens ist, kann für andere eine Zumutung sein. Denn mit dem Jahresanfang verbindet sich fast automatisch die Erwartung, dass nun etwas besser werden möge: friedlicher, gerechter, verlässlicher. Doch wer ehrlich hinschaut, spürt zugleich eine gewisse Müdigkeit. Zu oft haben wir erlebt, dass sich Krisen verlängern, Konflikte verhärten und einfache Lösungen Illusion bleiben.

Die Bibel kennt die Erfahrung von Angst, Scheitern und Ohnmacht nur zu gut. Und doch beginnt sie – und endet sie – mit Hoffnung. Nicht als Gefühl, sondern als Haltung. Hoffnung heißt im biblischen Sinn nicht: Alles wird gut. Hoffnung heißt: Gott lässt diese Welt nicht los. Auch dann nicht, wenn wir selbst kaum noch an Veränderung glauben. Das neue Jahr stellt uns vor alte Fragen: Wie leben wir verantwortlich in einer verletzlichen Welt? Wie bleiben wir menschlich, wenn der Ton rauer wird? Wie bewahren wir die Würde jedes Einzelnen – auch dort, wo Meinungen auseinandergehen? 

Die Jahreslosung der evangelischen Kirche heißt in diesem Jahr: „Siehe, ich mache alles neu.“

„Siehe“ – dieses kleine Wort am Anfang der Losung fordert unsere Aufmerksamkeit. Es lädt ein, genauer hinzusehen: auf das, was wächst, obwohl die Bedingungen schwierig sind; auf Menschen, die Verantwortung übernehmen; auf Versöhnung, die leise beginnt. Das Neue kündigt sich oft unscheinbar an, nicht in großen Umbrüchen, sondern in veränderten Haltungen.

Für Kirche und Gesellschaft bedeutet das: Erneuerung geschieht nicht durch Lautstärke, sondern durch Glaubwürdigkeit. Nicht durch schnelle Antworten, sondern durch das Aushalten von Fragen. Wo Menschen erfahren, dass sie gesehen werden, beginnt etwas Neues. Wo Schuld benannt und vergeben wird, öffnet sich Zukunft. Wo Hoffnung geteilt wird, verliert die Angst an Macht.

Ein neues Jahr ist kein Neubeginn aus dem Nichts. Es knüpft an das an, was war – mit all seinen Geschichten und Brüchen. Und es öffnet einen Raum, in dem eine Perspektive neu gehört werden kann: „Siehe, ich mache alles neu.“ Nicht wir machen die Welt neu. Aber wir dürfen mitwirken. Auch darin liegt die Kraft des Anfangs.