Dem Himmel entgegen geflogen – Notausgang aus dem Kriegsalltag

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Chefredakteurin Susanne Borée, Hintergrundbild von Erich Kraus

Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Chefredakteurin Susanne Borée zu wahren Gaben

Was für eine Gabe! Die Schaukel, auf der sie aller Angst vor dem nächsten Angriff entfloh und auf der sie sich über den modrigen Hinterhof erheben konnte, wollte sie ihren Nichten und Neffen schenken. 

Das „Museum der Kriegskindheit“ in Sarajevo hat viele Erinnerungsstücke gesammelt, die Kinder und Jugendliche während des Bosnienkrieges vor 30 Jahren begleitete. Die Besucher der interreligiösen Gruppe aus Bayern konnten ihnen bei ihrer Begegnungsreise, von denen die letzten Sonntagsblatt-Ausgaben berichteten, nahe kommen. Meist sind die Objekte im „Museum der Kriegskindheit“ ziemlich schäbig. Erst durch die Geschichten dazu erwachen sie zu neuem Leben.

Naida, die 1989 das Licht der Welt erblickte (alle Spender sind da nur mit Vornamen und Geburtsjahr benannt), verbrachte viele Stunden während der Belagerung Sarajevos in ihrem versteckten und geschützten aber engen und muffigen Hinterhof auf ihrer einfachen Schaukel. Der Opa hatte sie ihr gebaut. Ihre Mutter befestigte ein Glöckchen daran, so dass sie immer hören konnte, dass Naida noch auf ihr dem Himmel entgegenflog – aber dennoch alles in Ordnung war.

Nun wollte Naida die Schaukel an die Kinder der neuen Generation weitergeben: Doch diese schüttelten nur den Kopf über diese „langweilige“ Gabe – und lehnten sie ab. Natürlich war Naida zuerst sehr traurig. Dann aber fiel ihr ein, dass sie stattdessen froh sein sollte, dass ihre Nichten und Neffen viel mehr Möglichkeiten haben. 

Es ist erst 30 Jahre her, dass der Bosnienkrieg endete. 80 Jahre bei uns seit dem Zweiten Weltkrieg: Vielleicht liegen aus dieser Zeit in Speichern oder Kellern noch ähnliche, längst vergessene Objekte. Nun herrscht so viel neue Gewalt – auch wieder vor unserer Haustür. 

Damals schon wurde Vernesa, Jahrgang 1976, aus dem Schlaf aufgeschreckt: Zusammen mit ihrer Mutter sollte sie „sofort“ ihr Haus in Mostar verlassen: „Wer nur eine Minute länger bleibt, wird sofort erschossen“, brüllten die Soldaten. Die Mutter trug nur ein ärmelloses gelbes Oberteil. Es regnete sehr in dieser Nacht, in der sie dann durch die umliegenden Berge irrten. 

Endlich brach der Mond durch – das gelbe Hemd leuchtete in seinem Schein. Sie war „sicher, dass es uns davor bewahrte, in den Wäldern verloren zu gehen“, so Vernesa. Trotz aller Zerrissenheit in Bosnien bleibt am Ende die Hoffnung auf neue Wege. Selbst dies Hemdchen ist ein Hoffnungszeichen, dass auch den dunkelsten Advent erleuchtet. 

Susanne Borée
Chefredakteurin: Blattplanung, Online-Redakteurin, Redaktionelle Schwerpunkte: Reportagen, Kultur, Lebensfragen