Mythen der eigenen Opferrolle überwinden

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Säulen in der zentralen Karadoz-Beg-Moschee in Mostar und in der Serbisch-Orthodoxen Mariä-Geburt-Kathedrale in Sarajevo. Fotos: Borée
Säulen in der zentralen Karadoz-Beg-Moschee in Mostar und in der Serbisch-Orthodoxen Mariä-Geburt-Kathedrale in Sarajevo. Fotos: Borée

Zartes Licht der Religionsgemeinschaften in Bosnien gegen tiefes Dunkel der Feindschaft

Kann Versöhnung in Bosnien-Herzegowina gelingen – ausgerechnet durch die Zusammenarbeit von Religionen? Und dies, obwohl sie so eng mit den jeweiligen Volksgruppen verbunden zu sein scheinen, die im Krieg der 1990er Jahre verfeindet waren? Seit 1997 versucht der „Interreligiöse Rat (IRR)“ Verständigung. Stefan Terzić, serbisch-orthodoxer Sekretär des Rates, und der katholische Priester Oliver Jurišić führen die Besucher der interreligiösen Gruppe aus Bayern bei ihrer Begegnungsreise nach Bosnien  eindrucksvoll in ihre Arbeit ein. 2013 gab es 50 Prozent Bosniaken im Land (in aller Regel Muslime), 31 Prozent Serben (also Orthodoxe) sowie 15 Prozent Kroaten (meist Katholiken). Gewalt gegen Gotteshäuser geschähe meist dort, wo eine Gemeinschaft in der Minderheit ist, berichten sie – besonders vor Wahlen. 

Die Antwort des Rates darauf wirkt schlicht aber wirkungsvoll: ein Treffen möglichst hochrangiger Repräsentanten aller Religionen in vollem Ornat an dem Ort der Zerstörung. Dort drücken sie gemeinsam ihre Betroffenheit aus und zeigen, dass sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Die Behörden hingegen würden solche Taten kaum konsequent verfolgen.

Doch der Rat lebt nicht nur von Symbolen. In vier Städten gäbe es katholische Schulen, die Jugendlichen aller Religionen offenstehen – leider längst keine Selbstverständlichkeit in Bosnien. Theologiestudierende besuchen die Fakultäten der jeweils anderen Gemeinschaft, um ihr Denken und Glauben kennenzulernen. Ein einjähriger interreligiöser Masterkurs bringt Absolventen verschiedener Fakultäten zusammen. So schaffen diese Projekte neue Kontakte, wo lange Schweigen war.

Alle Entscheidungen geschähen einstimmig. Dennoch spüren Terzić und Jurišić, wie brüchig diese Annäherungen sind. In Städten, in denen eine Religion dominiert, sei oft die Unterstützung für Verständigung gering. Manchmal werde Jugendlichen sogar verboten, an Begegnungen teilzunehmen. Dabei teilen sie auch die Beobachtung, dass aktuell viele Jugendlichen wieder eher auf ihre eigene Gemeinschaft bezogen seien.

Wie viel vom Erfolg am Einsatz Einzelner hängt, zeigt ein Blick über Sarajevo hinaus. Dort treten orthodoxe und katholische Vertreter gemeinsam auf. In Mostar berichten der Imam der Zentralmoschee und der serbisch-orthodoxe Priester unabhängig voneinander, dass der katholische Kollege kaum gesprächsbereit sei. Für die Besuchergruppe war er ebenfalls nicht zu sprechen.

Herausfordernde Rahmenbedingungen für die Versöhnung

Von außen mischen sich gerne die Türkei, Kroatien und Serbien im angeblichen Interesse für „ihre“ jeweilige Volksgruppe ein. In Serbien häufen sich Unruhen. Angehörige der kroatischen Volksgruppe erhalten wohl ziemlich einfach einen kroatischen Pass – und sind so EU-Bürger. 

Die EU-Perspektive für Bosnien selbst wird immer blasser. Die wirtschaftliche Entwicklung stockt, die Korruption steigt. Jährlich verlassen bis zu 70.000 meist jüngere gut ausgebildete Menschen das Land, in dem 2022 rund 3,2 Millionen lebten. Es ist kaum Infrastruktur für erneuerbare Energien sichtbar – obwohl teils gut die Sonne strahlt und um viele Berge der Wind pfeift. Soweit nur einige Rahmenbedingungen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung versucht als wohl einzige der deutschen Stiftungen in Sarajevo mit dem IRR Räume für Dialog zu schaffen. Sie setzt auf europäische Werte und Aufklärung – sie will die hartnäck­igen Opfererzählungen durchbrechen: Diese stammen aus Zeiten der Osmanen oder der Habsburger, Jugoslawiens oder des Zweiten Weltkrieges: Irgendwann fühlte sich jede Gruppe mal von den anderen unterdrückt; fast jede Familie kennt Geschichten von Verrat, Kollaboration oder Rache.

Während des Bosnienkrieges hatten führende religiöse Vertreter zwar gemeinsam die Beendigung der Gewalt gefordert. Doch ihre Stimmen gingen oft unter im Lärm des Hasses. Die Balkankriege waren keine Religionskriege – aber vermischten nationale Zugehörigkeit mit religiöser Identität. Da ist die Arbeit des IRR besonders wichtig, um Mythen zu hinterfragen und Schuld anzuerkennen. Es wäre ein Weg, dass die Region zu einem Lernboden werden kann: für das Ringen um Frieden – und für die Hoffnung, dass Versöhnung möglich bleibt, auch wenn der Weg dorthin steinig ist.

Exkurs: Im Herzen Sarajevos – kleine jüdische Gemeinschaft mit großer Geschichte

Als Sarajevo ab 1992 in Flammen stand und die Granaten täglich fielen, traf Jacob Finci eine Entscheidung, die sein Leben – und das vieler anderer – verändern sollte. Der Jurist und einer der Organisatoren für die Olympischen Winterspiele 1984 blieb nach Ausbruch des Bosnienkrieges mit seiner Frau im belagerten Sarajevo. Und dies, obwohl sie die Möglichkeit hatten, damals nach Israel evakuiert zu werden. Nur ihren 13-jährigen Sohn schickten sie nach Israel.

Monat für Monat erreichte dank Fincis Beharrlichkeit zumindest jeweils ein Lastwagen voller Lebensmittel und Medikamente die hungernde Bevölkerung. Und 2.500 Menschen aller Volksgruppen konnten die Hölle verlassen. 

1992 lebten rund 2.000 Juden in Bosnien. Heute sollen es noch rund tausend sein. Einige entschieden sich wie die Fincis zu bleiben, andere kehrten wieder zurück. Auf Jacob Fincis Initiative ging 1997 die Gründung des „Interreligiösen Rates“ wesentlich zurück: Ihm gab er seine heutige Gestalt und stand ihm vor.

Auch auf dem Balkan war früher die jüdische Gemeinde größer: Vor 1939 lebten rund 14.000 Juden in der Region, davon 10.000 in Sarajevo – etwa zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Spätestens seit Mitte des 16. Jahrhunderts lebten Juden auf dem Gebiet des heutigen Bosnien, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Die Türken nahmen damals viele Geflüchtete auf, die vor der Spanischen Inquisition flohen. 

Neben diesen sephardischen Juden siedelten sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aschkenasische Juden aus Mittel- und Osteuropa an – als die Region zum Habsburgerreich gehörte. 

1941 trennte sich der so genannte „Unabhängige Staat Kroatien“ vom damaligen Königreich Jugoslawien: Er umfasste auch weite Teile Bosniens inklusive der Stadt Sarajevo. De facto war es ein faschistischer Vasallenstaat Hitler-Deutschlands. Bis Kriegsende waren deutsche und italienische Soldaten dort stationiert. Juden sowie Sinti und Roma wurden in deutsche Konzentrationslager deportiert – rund 10.000 Juden ermordet. Nach 1945 gingen viele der Überlebenden nach Israel.

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