Jussuf, der verlässliche Träumer

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Josephsaltar St. Ludwig Nürnberg. Foto: Kirch
Josephsaltar St. Ludwig Nürnberg. Foto: Kirch

Herbergssuche damals und heute: (k)ein Krippenspiel

Regelmäßige Leserinnen und Leser dieses Blattes erinnern sich vielleicht noch: In den beiden vergangenen Jahren haben wir in der Weihnachtsnummer von einem Paar erzählt: Sie – eine junge Frau, hochschwanger; er, ein schon reifer Mann mit angegrautem Bart. Beide kamen aus einem besetzten Land und wurden von Schleppern an einer Autobahnausfahrt bei Nürnberg ziemlich rüde abgesetzt. Das Paar war zwar dort, wo es hinwollte: In einem Land, in dem Freiheit und Sicherheit winkte. 

Doch letztlich kamen sie an einen Ort, der wenig einladend war. Wo man sie absolut nicht haben wollte. An einer Tankstelle, die gerade schloss, bekamen sie dann doch eine Herberge: in einem Abstellraum mit einem umgedrehten Beistelltisch, der als Kinderbettchen dienen sollte. Denn Maryam, so hieß die junge Frau aus Aleppo, sollte in dieser Nacht ihren Sohn Jeshua zur Welt bringen. Zeugen waren drei Fernfahrer aus dem Balkan. Und bald sollten drei Helfer, nein, nicht mit Gold, Weihrauch und Myrrhe, sondern mit Toilettenartikeln, mit Pampers und einer Sim-Karte fürs Handy eintreffen.

Im dritten Teil unserer Geschichte, wenden wir uns diesmal Jussuf zu, dem Graubart und Beschützer der jungen Frau.

Erster Akt: Magnifikat

Jussuf kannte Maryam von Kindsbeinen an. Sie kam zur Welt, als er schon in der Schreinerwerkstatt seines Vaters arbeitete. Das Mädchen fiel auf durch Lebendigkeit und Frohsinn. Den Christen in Aleppo ging es ja nicht schlecht unter dem Diktator. Und trotzdem fühlten sie sich nicht wohl. Der Geheimdienst hatte überall seine Finger im Spiel. Unbedachte Äußerungen, zufällige Kontakte mit Oppositionellen konnten zu peinlichen Verhören führen. Wobei peinlich durchaus und oft etwas mit Pein zu tun hatte. Trotzdem: Maryam wuchs behütet auf. Wenn sie fröhlich das Lied von der Gottesmutter sang, das Magnifikat, in dem Gott die Mächtigen vom Thron stürzt, schöpfte niemand Verdacht. Nicht einmal die Schergen des Systems. Als dann der Bürgerkrieg ausbrach, war Maryam fünfzehn Jahre alt. An den Tag, als das Rebellenkommando auftauchte, erinnerte sie sich noch, doch nicht mehr an das, was mit ihr geschah. Gnädig hatte ihr Hirn das, was ihr widerfahren war, gelöscht. Wochen später stellte der Arzt eine Amnesie fest, und: dass sie schwanger war.

Zweiter Akt: Erster Traum

Es war keine Liebe auf den ersten Blick, allenfalls ein gegenseitiges Wahrnehmen. Maryam war viel zu jung. Und Jussuf hatte ganz andere Interessen, er wollte weg von Aleppo. Als Christ war er zwischen allen Fronten geraten. Nachts kamen die Rebellen und forderten Tribut. Am Tag warfen die Hubschrauber des Diktators blind ihre Fassbomben in Wohngebieten ab – mit verheerenden Folgen.

Als ihm wieder einmal Maryam beim Bäcker begegnete, hatte sie sich verändert. Jegliche Kindlichkeit war aus ihren Zügen verschwunden, über ihren Augen ein Schatten. Sie versuchte zu lächeln, es fiel ihr sichtlich schwer. Und Jussuf ahnte etwas; er wird in dieser Nacht einen Traum haben. Von einem apokalyptischen Engel, von Flucht und Vertreibung, von einer jungen Frau, die seinen Schutz brauchte. Joseph und Maria, einem Esel und einen Stall. Zu deuten wusste er den Traum nicht, doch er hatte eine Ahnung.

Dritter Akt: Aufbruch

Auch Maryam hatte in letzter Zeit Jussuf, den Mann aus er Nachbarschaft, ganz anders wahrgenommen. Hatte seine besorgten Blicke gespürt, die auf ihr ruhten. Und wahrgenommen, dass er ein Mann war, nicht schön und nicht hässlich, aber interessant, mit Haaren, in die sich schon deutlich viele graue mischten. So wunderte sie sich nicht, als Jussuf ein paar Tage später bei ihrer Familie auftauchte. Sich lange mit den Eltern unterhielt. Und erfuhr, was Maryam widerfahren war.

Von da an gingen sie manchmal spazieren. Jussuf erzählte von seinem Plan, Aleppo zu verlassen.

Und die Werkstatt, seine Existenzgrundlage? Dieses Land sei kaputt, all die Hoffnungen des Jahres 2011 zerstoben. Denn von wegen arabischer Frühling. Dieser Diktator war noch schlimmer als sein Vater. Ein gelernter Kinderarzt, doch ein Schlächter seines Volkes. Maryam hörte zu. Dachte nach. Auch sie wollte nicht, dass das Kind in ihrem Bauch in diesem Lande geboren würde. Beide sprachen es nicht aus, doch in ihrem Herzen waren sie schon bereit für einen Neuaufbruch. 

Und langsam reifte in ihnen ein Plan; noch sprachen sie nicht von Verlobung; doch wollten es schließlich die Eltern von Maryam. Die akzeptierten auch die Geschichte, die das ungleiche Paar ihnen auftischte. Angeblich sollte es in Türkei gehen, wo Jussuf Arbeit finden wollte; dort sollte auch das Kind zur Welt kommen. Und vielleicht würden sich die Zeiten noch ändern – zum Guten hin.

Vierter Akt: Die Flucht

Doch die beiden hatten anderes vor. Wenn schon, dann sollte das Kind in Freiheit auf die Welt kommen. Dafür hatte Jussuf seine Werkstatt mit Maschinen zu Geld gemacht. 

Außer Landes zu kommen war noch einfach, man kannte die Routen, die Lastwagenfahrer, die Kosten. Hinter der türkischen Grenze warteten die professionellen Fluchthelfer. Und alles aber auch alles hatte von nun an seinen Preis. Die Fahrt mit dem Taxi zur Küste, die Schwimmweste, die Überfahrt bei Nacht und die Adresse von Leuten, die ihnen in Griechenland weiterhelfen würden. Griechenland. Das Eingangtor zur EU, wo man die Fluchthelfer Schleuser nennt.

Nur wer je morgens um zwei Uhr, bei völliger Dunkelheit und Kälte, bei mittlerem Seegang in einem Schlauchboot von jeder Welle getunkt und gehoben wurde, kann sich vorstellen, welche Gefühle die Menschen begleiten, die das auf sich nehmen. Die Positionslichter des griechischen Küstenschutzes waren in diesem Fall ein Hoffnungszeichen; auch dass sie nicht gleich ins offene Meer zurückgedrängt wurden, Stichwort Pushbacks, war ein Glücksfall.

Als Syrer konnten sie wenigstens ein Mindestmaß an Solidarität erwarten. Den Afghanen, Pakistani, Irakern und Marokkanern auf dem Boot ging es weniger gut.

 Maryam half ihr ärztliches Attest, davon profitierte auch Jussuf. Die drei Wochen Lager auf Lesbos? Ätzend, entwürdigend und nervig. Irgendwann hatte der Cousin von Jussuf in Düsseldorf dann die Leute gefunden, die von nun an die Regie übernahmen. Sie sprachen arabisch. Blieben anonym. Aber zumindest ging es weiter. Von Nordgriechenland über Nordmazedonien ins Kosovo. Von dort nach Serbien, Bosnien-Herzegowina. Fußmärsche, Busfahrten, Nächte unter freiem Himmel. Dann über die Grüne Grenze nach Kroatien. Im Schengenraum jetzt. Und bloß nicht erwischen lassen.

Die Kroaten, als jüngste Nation in der EU, wollten ihr Land sauber halten, hat man ihnen gesagt. Unterwegs die pure Not, Kriminalität an den Ärmsten, Kinder und Jugendliche, denen das Grauen in den Gesichtern stand.

Maryam und Jussuf hatten Schutzengel, oder besser gesagt, Helfer, die bezahlt werden wollten. Die sie weiter über Slowenien und Österreich auch über die deutsche Grenze brachten, wie, das wussten sie nicht; der umgebaute Transporter mit der Zwischenwand auf der Ladefläche hatte keinen Ausguck. Dunkelheit, schlechte Luft. Als auch das Handy kein Licht mehr hergab, durchlitten sie weitere ungewisse Stunden in Schockstarre. Doch endlich, endlich öffnete sich die Ladetür des Transporters. Sie wurden einfach auf die Straße gesetzt. Die Fahrer gaben Gas und weg waren sie. Und nun?

Maryam und Jussuf stehen mit ihren Armseligkeiten an einer Ausfallstraße einer Großstadt. In der Ferne eine Tankstelle. Dort in einem Nebenraum wird Maryam ihr Kind zur Welt bringen. Zeugen sind drei Fernfahrer vom Balkan. Später kommen drei diakonische Helfer hinzu; die werden die „Drei von der Dankstelle“ genannt, weil sie ja immer Danke für Spenden sagen müssen. Und hätte Jussuf nicht kurz zuvor einen Wachtraum gehabt, von einem Engel der ihm sagte, dass er mit Maryam und Jeschua in ein Fernes Land gehen solle, hätte er wohl nicht eingestimmt, als Hassan, der albanische Fernfahrer ihm ein Angebot macht: Die Schreinerei in seinem albanischen Bergdorf sei verwaist, seit sein Onkel Arbeit in Deutschland gefunden habe.

5. Akt: Gepackte Koffer

Große Aufregung, viele Fragen, noch mehr Zweifel. Am Ende lässt sich auch die skeptische Maryam auf das Abenteuer ein. Nicht in Deutschland zu bleiben, wo sie anscheinend nicht willkommen sind, sondern mit Hassan nach Albanien zu gehen. Dort, so will es diese Geschichte, werden sie von den Dorfbewohnern Hilfe erfahren. Selbst die Behörden drücken ein Auge zu (alles hat schließlich seinen Preis). Und Jussuf – träumt immer noch. Von einem Syrien, in dem sich leben lässt. Ohne Bespitzelung durch die Geheimdienste, ohne Behördenwillkür und mit der Möglichkeit von freien Wahlen.

Ein Stück weit wurde dieser Traum, und nun sind wir wirklich in der Gegenwart, sogar schon wahr. Russland führt seit 2022 seinen eigenen Krieg in der Ukraine und ließ Assad hängen. Baschar musste aufgeben und lebt nach der Flucht mit seiner Familie lebt inzwischen in Russland.

Zurück zu Jussuf: Der zögert noch. Wird der fragile Frieden halten, den die neuen Herren versprechen? Jussufs Werkstatt ist zerstört, die Verhältnisse noch höchst unsicher. Doch eines Tages; eines Tages hat die Flucht vielleicht ein Ende. Dann bewahrheitet sich nicht nur Jussufs Traum, sondern der eines ganzen geschundenen Volkes. 

Und des Schreiners Sohn, der nicht sein leiblicher ist, wird aufwachsen und seinen Weg gehen. Wohin?

Mit jedem Kind, sagt die Philosophin Hannah Arendt, kommt eine neue Chance, ein neuer Anfang, eine neue Hoffnung in die Welt. Mit allen Möglichkeiten, guten oder schlechten. Auch wir glauben, wir wollen glauben, dass jedes Kind ein göttliches Kind ist, mit all den Möglichkeiten hin zu einer besseren Welt.