Den Riss des nur rationalen Denkens heilen

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Tanz der Frau Weisheit

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Tanz der Frau Weisheit

Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Sprüche 8,22–36

Die Weisheit. Wer würde sie nicht gern haben? Und wie sehr wird sie in unserer Welt oft vermisst? „Gott, lass Hirn vom Himmel regnen“ – so könnte ein Stoßgebet für die Weisheit lauten.vDie Fragen werden immer mehr und komplexer, und die Antworten werden immer weniger und unsagbarer. Unser Text geht davon aus, dass die Weisheit einfach da ist. Immer schon da war, schon vor der Schöpfung. Und die Weisheit war Gottes Liebling. Sie hatte einen zärtlichen, kindlichen Umgang mit Gott, und ebenso zärtlich ist der Umgang der Weisheit mit uns Menschen: „Ich spielte (oder „tanzte“: vergleiche Ausgabe 16, Seite 8) auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“

Wo finden wir heute solche Weisheit? Denn das ist eine Frage von Leben und Tod: „Wer mich findet, der findet das Leben“ – „Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben.“

Interessanterweise geht das Buch der Sprüche davon aus, dass man die Weisheit bei Gott finden kann (dort spielt sie ja auch immer noch). In der Wissenschaft hat man sich jedoch längst von Gott verabschiedet. Ebenso wird in unserer Gesellschaft der Bezug auf Gott immer blasser. Die Verantwortung vor Gott, wie sie in der Präambel unseres Grundgesetzes steht, spielt im politischen Alltag kaum eine Rolle. Und die Bedeutung der Kirchen schwindet.

Kein Wunder, würde die Weisheit sagen: dass bei euch alles drunter und drübergeht oder nicht gerade gut läuft. Was nun, liebe Weisheit? Sie würde antworten: Ihr müsst den Riss heilen, der in eurem Denken entstanden ist, seit ihr begonnen habt, die Welt ohne Gott und damit auch ohne die Weisheit zu denken. Denn gerade in der Natur, die ihr ja so gründlich mit euren Naturwissenschaften erforscht, findet ihr mich. Denn ich war schon da, ehe alles erschaffen wurde.

Die Naturwissenschaft liefert Fakten – viele, und jeden Tag mehr. Aber ist das schon Weisheit? Eben nicht! Weisheit wird es erst, wenn man versteht und alles in einen größeren Zusammenhang einordnet. Der Blick auf das Ganze ist immer ein spiritueller Blick und damit ein Blick auf Gott.

Dr. Martin Burkhardt, Pfarrer in Augsburg

Gebet und Lied: EG 130, Vers 2