Vom Aufbruch zur Vergesslichkeit

Chefredakteurin Susanne Borée im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über das  Erleben des Kriegsendes in Kirchen

75
Chefredakteurin Susanne Borée, Hintergrundbild von Erich Kraus

Chefredakteurin Susanne Borée im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über das  Erleben des Kriegsendes in Kirchen

„Ein ganz unglaublicher Frühling“ – so der Titel eines Quellenbandes zur Nachkriegsgeschichte aus den 1990er-Jahren. Das galt auch für die Kirchen: „Eine religiöse Wiederbelebung, wie Europa sie seit 100 Jahren nicht mehr erlebt hat, ereignet sich heute in Deutschland. Mit Ausnahme des Hungers ist diese heute die mächtigste Kraft in Deutschland. Wer nicht mindestens 20 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes kommt, erhält keinen Sitzplatz mehr.“ Wohlgemerkt, an jedem ganz Sonntag, so eine Erinnerung kurz nach Kriegsende.

Der Sammelband der „Bundeszentrale für politische Bildung“ fiel mir kürzlich wieder in die Hände. Ein wenig altbacken sieht er nun aus. Inhaltlich ist das Buch keineswegs überholt. Es bietet durch weit gestreute Alltagsquellen und weitere Reflexionen tatsächlich „weit gestreute Erfahrungen unterschiedlicher Schicksale in einer bedrohlich-lebendigen Zeit“, wie es im Vorwort heißt. 

Und es zeigt, wie auch der Glauben Halt bot in einer Zeit, die völlig aus den Fugen geraten war. Da waren nicht nur die Kirchen gefüllt, sondern die Inhalte der Predigt hallten nach. So beim Tagebucheintrag einer Teenagerin an Pfingsten 1945, knapp zwei Wochen nach Kriegsende: „Ich möchte mein Herz dem heiligen Geist weit öffnen. Gott schenke mir Glauben! Pastor K. hat wunderbar gesprochen. Er sagte, Weihnachten, Karfreitag und Ostern seien nur gewesen, damit Pfingsten sein kann.“

Helmut Gollwitzer reflektiert in der nächsten Quelle weiter über die damalige Rollen der Kirchen trotz ihrer Kompromisse mit den Nazis und trotz des etwas verunglückten Stuttgarter Schuldbekenntnisses als ziemlich einzige Größe „nicht diskreditiert“. Sie boten nicht nur Perspektiven im Angesicht des Todes, der gerade erst allgegenwärtig gewesen war, sondern „waren bei den Besatzungsmächten in einen ganz unverdienten Ruf gelangt“ – vor allem im Westen. Sie wurden priveligierte versorgt und wurden zu einem Ort, an dem „man als Menschen zusammenkommen konnte“ – bis sie ihre „Monopolstellung“ wieder verloren. Und heute selbst bei einem Kirchentag kaum noch vergleichbar mitreißen.

Allzu schnell wurde der Schrecken des Krieges zugedeckt und die Aufbruchstimmung verschwand, wie eine Karikatur des „Ulenspiegels“ schon 1946 zeigt. Die weiterhin
aktuelle Unterschrift: „Betrachten Sie dies Bild nur drei Minuten lang, wenn Sie vor Wut über den Augenblick zu Vergeßlichkeit neigen.“